Photo by Espen Eichhöfer – 2020
Figürlich oder abstrakt – diese seit der Kunst des 20. Jahrhunderts polarisierende Frage hat Sebastian Heiner für sich bislang nicht entschieden. Seit Anfang der 1990er-Jahre malte er Gruppenbilder mit stark abstrahierten Figuren, die heftig und mit ausladenden Gesten auf allen nur denkbaren gesellschaftlichen Ebenen, in Zeiträumen zwischen Mythologie und Gegenwart und in unbestimmten Weltgegenden miteinander kommunizierten. Ausgeführt mit gestischen Farbschwüngen, verschwanden diese Figuren einige Jahre später hinter zeichenhafter und tachistischer Malerei in einem Zwischenreich aus informellen Farbräumen.
Seit Anfang des neuen Jahrtausends entwickelte er unter dem Eindruck von Megacitys in Ost- und Südostasien eine neue Art des Action Painting, bei der sich breit und pastos angelegte Farben und Strukturen in rhythmischen Schwingungen oder explosionsartig zu den Bildrändern hin ausbreiten. Auch aus diesen völlig abstrakten Farb-Universen, Ausdruck des lärmenden Chaos megalomaner Zivilisationen, traten einige Zeit später, in Bildserien aus Beijing und Shanghai, Gestalten hervor, zunächst nur durch Gesichter, herausgestreckte Hände und Füße gekennzeichnet. Schließlich zog sich der Farbschleier ganz zurück: Miteinander verflochtene, kubistische und langgezogene, stehende oder bedächtig schreitende Traumfiguren, Heroen und Hohepriester, mit strahlendem Kopfschmuck traten in eine leere, nur durch die eigenen maschinenartigen Bewegungen determinierte Welt.
Noch während des letzten Aufenthalts in Shanghai, wo wieder eine Serie an Action-Painting-Gemälden entstand, zeichnete der Künstler roboterartige, farbig aquarellierte Figuren in sein Skizzenbuch, die sich zu Fuß oder mit grotesken Fahrzeugen durch aufgetürmte Stadtlandschaften mit demselben Titel, „Moloch City“, bewegen. Dazu entstanden kurze Prosatexte, Traumsequenzen, in denen der Ich-Erzähler in unbekannte Gegenden fremder Länder, verborgene Labyrinthe seiner Malerei oder in Gesellschaften einer fernen Zukunft vordringt, in denen Roboter die Herrschaft übernommen und die Menschen zu Insekten degradiert haben.
Nur scheinbar sehen wir bei Sebastian Heiner zwei völlig konträre Weltentwürfe – in den abstrakten Bildern das lärmende Chaos der Großstadt, in den figürlichen die Vision einer künftigen Welt, in der mechanisch agierende, durch Antennen gesteuerte Wesen die Herrschaft übernommen haben. Beide Weltentwürfe, das zeigen die Zwischenstadien, existieren jedoch nicht im Widerstreit, sondern gleichzeitig, kommen alternierend zum Vorschein oder können sich durch Übermalung, wie bei einer Berliner Performance geschehen, ins Gegenteil verkehren. Die abstrakte Serie ist Ausdruck für das alltägliche Chaos der Gegenwart, die figürliche für die daraus entstehende Zukunft, eine Dystopie, in der der Mensch sich den Maschinenwesen unterwirft.
Im Anschluss an die aquarellierten Zeichnungen entstand seitdem eine Serie mittelformatiger und wandfüllender Gemälde, auf denen farbig gewandete Figuren mit mosaikartig gemusterten Kleidern, bunten Kimonos, harlekinesken oder folkloristischen Kostümen und großen Schuhen die Bildfläche beherrschen, gegeneinander marschieren, durcheinander laufen und stürzen, Herrschaft ausüben oder in heller Aufregung und Verzweiflung Hände emporrecken. Einige wirken wie Menschen, andere wie Roboter, die durch Antennen und Fühler gesteuert werden, sich mit Stacheln verteidigen oder Waffen und Werkzeuge vor sich her tragen. Kreisrunde und heuschreckenähnliche Insekten beherrschen den Luftraum. Es ist eine dystopische Welt, wie wir sie aus Langs Film „Metropolis“ oder Orwells Roman „1984“ kennen, in denen maschinelle und psychologische Instrumente der Unterdrückung die Herrschaft übernommen haben.
Die Grundrisse dieser neuen Welt entwickeln sich explosionsartig zu den Bildrändern hin, wie wir es aus den Action-Painting-Bildern des Künstlers kennen. Doch vielfach zusammengesetzt bilden die eruptiven Zackenmuster kristalline Gebirge und Gegenden, wie sie die utopischen Architekten der 1920er-Jahre, Hablik, die Brüder Taut und Luckhardt, entwarfen. Auch die Erinnerung an die Traumreisen von McCays „Little Nemo“ nach „Slumberland“ zum Eispalast von Jack Frost werden wach. In Heiners neuer Bildwelt spiegeln sich also nicht nur negative, sondern auch positive, mit Faszination und Abenteuer besetzte Utopien wieder. Die leuchtende Farbigkeit, angewendet auf kleine, mosaikartige Flächen, verspricht wie bei der Künstlergruppe der Fauves Wildheit und Lebensfreude, ihre Erstarrung zum formatfüllenden Ornament den Ordnungswillen, der in der Art Brut und in der Volkskunst zu beobachten ist.
Die neuen figurativen Gemälde von Sebastian Heiner sind Traumbilder einer neuen, sicherlich chaotischen Welt jenseits des Paradieses, die aber nicht ohne Hoffnung ist. Ihre Bildelemente entstehen ähnlich wie seine Gemälde zum Action Painting nicht nachgelesen, nicht vorherbestimmt, nicht konstruiert, sondern aus dem Unterbewussten seiner Erfahrungswelt aus vielfältiger Kultur, Geschichte und Vision. Im wandfüllenden Format und mit nachträglich gefundenen Titeln wirken sie wie Historienbilder, deren Figuren und Symbole sich zum Erfinden immer neuer Geschichten, aber auch zur Warnung vor einer ungewissen Zukunft eignen.
Axel Feuß – März 2019